Diese Geschichte liegt ein paar Wochen zurück, als ich noch in der Prärie in Alberta war. Dass sie mehr als ein flüchtiger Moment war, ist mir erst jetzt bewusst geworden.
Ich bin in der Nähe des Westbahnhofs aufgewachsen. Meine Mama wurde nicht müde, mich vor dessen mannigfaltigen Gefahren zu warnen. Vor allem die Schienen machten ihr Sorgen, unter keinen Umständen durfte ich sie betreten, geschweige denn überqueren, egal wie eilig ich es hatte. So gefährlich! Sie hatte immer Angst um mich.
Zeitsprung ins Heute. Es hatte mich in die kleine Stadt Lethbridge verschlagen, 200 Kilometer südlich von Calgary. Das Wahrzeichen von Lethbridge ist eine gewaltige Eisenbahnbrücke, die sich über das liebliche Tal des Oldman Rivers spannt (nein, nicht des Mississippis). Ich hatte mich mit meinem Vermieter angefreundet, der mir eines Tages etwas zeigen wollte, das Touristen nie zu Gesicht bekommen. Klar war ich dabei.
Wir fuhren also mit seinem Pickup (was sonst ;-)) eine staubige Straße entlang, kletterten einen Hang hinauf, stiegen über Stacheldraht und standen plötzlich vor Bahnschienen. Ich verstand, wir befanden uns auf dem schmalen Bahndamm auf Höhe der Brücke, die man sonst nur von unten sieht. Tolle Aussicht! Zur Brücke war es noch ein Stück, mein Freund wollte es über die Holzschwellen springend zurücklegen.
Geh‘ nie auf Schienen!, schrie eine Stimme in mir. Mamas Stimme, mein Über-Ich, eindeutig. Ich reagierte geradezu panisch, mein Freund lachte mich aus. Über die Schwellen zu hüpfen sei total sicher, das täten alle hier und die Bahn wäre ohnehin stillgelegt.
Mir gingen die Argumente aus, aber ich blieb dabei (ich kann sehr stur sein). Lieber zerstach ich mir auf den spitzen Steinen am Bahndamm die Sneaker, stolperte über eine Drahtschlinge, stürzte, zerriss mir die Hose und schlug mir Knie und Hände blutig, als dass ich auch nur einen Fuß auf die Schienen gesetzt hätte. Mein Über-Ich ist echt stark.
Mein Freund hüpfte von den Schwellen herunter und begutachtete meine blutenden Knie. In dem Moment donnerte ein Zug an uns vorbei. Ich sah das Weiße in den schreckgeweiteten Augen des Lokführers. Da fahren ja doch noch Züge, sagte mein Freund überrascht.
Ich dachte nur, dass meine Mama wieder einmal recht gehabt hatte. Es dauerte bloß ein paar Jahre, bis ich es herausfand.