Die Frau fiel mir schon am Gate auf. Sehr attraktiv, Mitte Fünfzig vielleicht, chic, mit einem ganz persönlichen Stil. Kanadierinnen kleiden sich sonst eher praktisch.

Sie stieg als letzte in den Flieger von Calgary im Süden nach Whitehorse im Norden, telefonierte bis zur letzten Sekunde und gab der Person am anderen Ende der Leitung klare Anweisungen. Sie schien das Führen gewohnt zu sein.

Der Zufall wollte es, dass wir nebeneinander saßen. Wir kamen schnell ins Gespräch. Sie war nicht nur souverän, sie war auch herzlich, aufmerksam, umsichtig und eine großartige Gesprächspartnerin. Sie imponierte mir. Erzählte von ihrem husband, mit dem sie weiter oben am Klondike River ein großes Stück Land besaß, auf dem sie Gold wuschen. Das Auftauen der Permafrostböden machte neue Areale zugänglich, die Maschinen liefen auf Hochtouren (es gibt also tatsächlich Gewinner der Klimawandels). Zwei der vier Kinder arbeiteten bereits im Familienunternehmen mit, auch mit den beiden anderen hatte sie ein wunderbares Einvernehmen.

Mein Respekt wich einer gewissen Bewunderung. Vielleicht sogar einem bisschen Neid. Diese Frau hatte alles richtig gemacht.

Gerade, als der Pilot die Nase des Fliegers zum Landeanflug hinunterdrückte, fragte ich sie, was sie denn in Calgary gemacht hatte. Sie lebe dort, antwortete sie, und habe sich mit ihrem Scheidungsanwalt beraten.

Oha.

Ihr husband, so stellte sich heraus, war nämlich ein grauslicher Narzisst, ein Gaslighter, ein skrupelloser Manipulateur, doch weil sie so jung geheiratet hatte, dachte sie, das müsse so sein. Erst an ihren Kindern erkannte sie, was es angerichtet hatte. Der eine Sohn war einer Narzisstin auf den Leim gegangen, der andere entwickelte sich selbst zu einem solchen, die beiden jüngsten lehnten jede Art von Beziehung ab. Sie selbst wollte nur noch weg, deswegen war sie nach Calgary gezogen, in die Nähe ihrer nicht im Familienbetrieb mitarbeitenden Kinder. Ihr stand die Hälfte des Unternehmens zu, sie war also reich, aber nur theoretisch, weil ihr husband keinen Cent zu zahlen gedachte. Er steckte alles in neue Maschinen, doch die schienen in den Büchern nicht richtig auf. Deswegen flog sie jetzt an den Klondike River, um sich selbst ein Bild zu machen. Sie rechnete nicht einmal damit, dass ihr husband jemanden zum Abholen schickte.

Ich betone das Wort husband so, weil sie es auch tat. Es ließ mich an eine glückliche Ehe glauben. Seht ihr die Macht des Narrativs? Sie hatte nie gelogen – und doch war alles ganz anders.

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