Raum und Zeit sind bedeutungslos

Alte Freunde wiederzusehen ist immer spannend. Je länger die Begegnung zurückliegt, desto unsicherer ist man. Wird man einander wiedererkennen? Findet man einen Draht? Wird es peinlich?

Es geht um einen Backpacker-Freund, den ich vor gefühlt 100 Jahren in Australien kennengelernt hatte. Auf einer nächtlichen Wiese in Cairns unter einem Wahnsinns-Sternenhimmel hatten wir ein verdammt gutes Gespräch, bei dem mir mehr als nur ein Licht aufgegangen ist. Southern Cross war Zeuge.

Nun wollte er mich vom Flughafen abholen. Kanadische Provinzflughäfen sind gemein, man klettert aus dem Flieger, wandert über das Rollfeld (ganz schön kühl hier), öffnet eine Tür – und steht unvorbereitet in einem Raum, in dem Ankommende, Wartende, Taxifahrer und sämtliche Gepäckstücke lustig durcheinanderpurzeln. Alles bewegt sich. Mittendrinnen steht ein Mann mit Jacke, Baseballkappe und Coronamaske. Noch mehr verhüllen geht nicht. Während mein Verstand noch nach sachdienlichen Hinweisen sucht, ob das überhaupt der richtige Mann ist, renne ich schon los und ich werfe mich in seine Arme.

Es war der richtige Mann.

Und schon reden wir, als hätten wir uns nicht ein halbes Leben nicht gesehen. Raum und Zeit sind bedeutungslos.

Am Yukon ist es allerdings sehr kalt. Von 37 Grad in der Prärie auf 13 Grad in Whitehorse, das spürt man. Vor allem in der ersten Nacht in dem Trailer, in dem er und seine (entzückende!) Familie mich vor ihrem Haus untergebracht haben. Zu stolz, um die Heizung aufzudrehen, ziehe ich alle pyjamatauglichen Kleidungsstücke übereinander, binde mir den Winterschal um, stülpe mir meine dicksten Socken über und wickle mich in drei Decken gleichzeitig. Am besten unter die Decken atmen, dann wärmen sie sich schneller auf. Aber nicht so lang, bis der Sauerstoff weg ist.

Kaum sind meine Füße endlich warm, pumpert es an die Tür des Trailers. Heftig. Es ist längst nach Mitternacht. Who is it?, frage ich erschrocken. Es ist der alte Freund, ich möge herauskommen. Und zwar schnell.

Verwirrt schäle ich mich aus meinen Decken, werfe mir die Winterjacke über und stolpere hinaus in die Dunkelheit. Look up, sagt er nur.

Dort oben im Himmel tanzt ein beachtliches Nordlicht, leuchtend grün, hell wie ein Scheinwerferstrahl. Da stehen wir also, Jahrzehnte später, wieder auf einer Wiese und bestaunen ein Nordlicht, das sich zügig über den Himmel schiebt. Der Große Wagen war Zeuge.

Mein Freund trug übrigens nur ein T-Shirt.

Das Ding im Vordergrund ist mein Trailer. Wenn ihr genau schaut, seht ihr rechts vom Nordlicht den Großen Wagen (Bildschirm putzen hilft).
Noch einmal das Nordlicht, das manchmal schmäler, manchmal breiter wird.
Das ist “mein” Trailer in voller Pracht. Die Scheiben rechts, wo das Bett ist, sind übrigens abgeklebt. Wegen der Mitternachtssonne im Sommer.
Jetzt kommen Bilder der unfassbaren Landschaft rund um Whitehorse. Wiesen, …
… Wälder, …
… Berge, …
… Seen. Dieser hier ist in Carcross. Der Name des Ortes kommt von Caribu Crossing, weil hier die Karibu-Herden durchziehen. Weil es in Kanada und den USA aber mehrere Caribu Crossings gibt, hat sich dieses für die Kurzform entschieden.
So schaut es im Ort aus. Recht beschaulich.
Das ist die kleinste Wüste der Welt, Carcross Desert, wirklich winzigklein. Der Boden im gesamten Großraum von Whitehorse ist sandig, hier extrem sandig.
Es geht auch anders. Nahe der US-Grenze wird es plötzlich felsig, das schaut dann so aus. Trotz gleicher Höhenlage ist es dort schon eindeutig Herbst. In Whitehorse kündigt er sich gerade erst an.
Das ist der Yukon River auf Höhe Whitehorse. Glaubt mir, da wollt ihr nicht reinfallen. Viel zu kalt, viel zu reißend.
Das ist, was ich an Kanada am meisten liebe: der offene Himmel, die endlose Weite. Das vergisst man nie!

Diesen Beitrag teilen