Dieser Artikel ist schon am 8. August in der “Presse” erschienen. Hat nur so lange gedauert, bis ich den Beleg in Händen hatte.


Die Entdeckung der endlosen Weiten

Von Québec City bis Halifax. Ein Roadtrip entlang des Sankt-Lorenz-Stroms und durch die kanadischen Atlantikprovinzen, immer dem Frühling davon. Was auch Vorteile hat.

Québec City ist kalt. Anfang Mai fegt noch frostiger Wind durch die Altstadt, die steinernen Häuser wirken grau, abweisend und kalt. Häuser aus Stein findet man nicht oft in Kanada, überall sonst sind sie aus Holz, in den Städten verkleidet mit allerlei Fassaden, auf dem Land oft mit Zedernholz. Allein das verleiht ihnen Wärme.

Québec City ist also Stein, grau und kalt. Kein Blatt ist zu sehen, der Winter hat die Altstadt noch fest im Griff. Immerhin muss man sie nicht mit anderen Touristen teilen, sie gehört einem praktisch allein. Man freut sich, den Place Royale sofort als Drehort von Catch me if you can zu erkennen, die Szene, in der Tom Hanks den jungen Leonardo di Caprio in seiner Fälscherwerkstatt stellt, welche in Wahrheit ein Café ist. Nicht weit entfernt trotzt das wuchtige Wahrzeichen der Stadt dem Wind, das Fairmont Le Chateau Frontenac. Das riesige Hotel dominiert die Oberstadt. In seinem gediegen blau-gold getäfelten Foyer ist mehr los als auf den Straßen.

Es empfiehlt sich, wenn man einmal die Oberstadt erklommen hat, gleich oben zu bleiben. Windfeste wandern weiter zur Citadelle und ihre sternförmigen Wehrmauern entlang. Bis es dort oben einfach zu kalt wird und man wieder in die etwas weniger stürmische Unterstadt herabsteigt. Sich dort in eine Kirche flüchten zu wollen ist keine gute Idee. Kirchen sind in Kanada grundsätzlich versperrt und öffnen nur zum Gottesdienst. Die bekannteste ist die neobarocke Basilique-Cathédrale Norte-Dame, dabei wäre auch die Église Saint-Roch am Rand der Altstadt einen Blick wert. Wenn man sich denn an den vielen Obdachlosen auf den Stiegen vorbeiwagt. Auch das ist ein kanadisches Spezifikum: Menschen ohne Unterkunft werden von den Kirchen gespeist, daher sammeln sie sich dort.

Kulinarische Überraschung
Gegen die Kälte hilft vielleicht die lokale Delikatesse, Poutine. Man werde süchtig danach, wurde einem versprochen, und in Erwartung raffiniert-frankophiler Küche betritt man ein Lokal. Geliefert wird ein großer Teller Pommes frittes, durchmischt mit knatschigen Cheddar-Cheese-Stücken und übergossen mit Bratensauce. Aufgeweichte Pommes frittes, dagegen will man sich eigentlich sträuben. Doch da hat man seinen Teller auch schon leergegessen – weil Poutine richtig gut schmeckt.

In Québec City begegnet man ihm zum ersten Mal: dem Sankt-Lorenz-Strom. Breit ist er, mächtig und respekteinflößend. Nichts gegen die Donau – Sankt Lorenz kann mehr. Ihm wird man Richtung Atlantik folgen. Im Herbst ist das Nordufer eine beliebte Route, um sich am prachtvoll bunten Laub des Indian Summer zu erfreuen. Im Mai gibt es noch kein Laub, also wählt man den Weg am Südufer, zuerst nach Nordosten die Halbinsel Gaspé (französisch Gaspésie genannt) entlang, bis Sankt Lorenz schließlich im Atlantik aufgeht, und dann weiter nach Süden entlang der Küste und durch Prince Edward Island, Cape Breton Island bis nach Halifax in Nova Scotia.

Und gerade, als in Québec endlich die Sonne durchbricht und man in der nun gar nicht mehr so abweisenden steinernen Altstadt verzückt die ersten grünen Blattspitzen entdeckt, da verlässt man sie.

Wie das Waldviertel, nur größer
Autofahren ist in Kanada ein Genuss. Die Straßen sind breit und meist gut ausgebaut, der Verkehr… welcher Verkehr? In der Vorsaison ist oft meilenweit kein Auto zu sehen. Nur den Tank muss man immer mindestens halbvoll halten, die nächste Tankstelle ist weit entfernt. Wer eine Pause braucht, stoppt am Waldrand.

Österreichische Tempobolzer mag das Limit von maximal 110 km/h am Highway angesichts der großen Distanzen befremden. Es hat Vorteile: Man hat genug Muße, den Blick über die Landschaft schweifen zu lassen. Und rechtzeitig den Elch zu sehen, der die Straße quert.

Gleich hinter Québec City lohnt ein Stopp beim Montmorency Wasserfall und auf der Ile d’Orléans. Dann weitet sich Sankt Lorenz, das andere Ufer wirkt nun wie eine langgezogene entfernte Insel im Meer. Wendet sich die Straße einmal in Richtung Landesinneres, fühlt man sich an das niederösterreichische Waldviertel erinnert – nur dass hinter dem nächsten Hügel der Blick erneut bis zum Horizont reicht. An die endlosen Weiten muss man sich erst gewöhnen.

Am Südufer gibt es keine Orte, die mehr als ein, zwei Übernachtungen wert sind. Rivière-du-Loup hat ein paar Restaurants, Saint-Anne-des-Monts einen Supermarkt. Das war’s. Der wahre Star ist die Natur. Ein guter Einstieg für Nationalpark-Neulinge ist der nur 33 Quadratkilometer kleine Parc du Bic. Es liegt noch Schnee im Wald, deshalb ist er noch nicht geöffnet, aber zugänglich. Erfreulicher Nebeneffekt: Es ist auch noch keine Eintrittsgebühr fällig. Man stapft also, soweit es der Schnee zulässt, durch den Winterwald, sammelt Steine am Strand und ruft sich immer wieder in Erinnerung, dass man an einem Flussufer steht und nicht am Meer, trotz der deutlich sichtbaren Gezeiten.

In Pointe-au-Pére ließe sich neben einem Leuchtturm ein kanadisches U-Boot besichtigen, die Onondaga, wäre denn schon Hauptsaison. Der Blick von außen ist imposant genug. Und der auf die  Sonnenuntergänge: Die Tropen können sie nicht bunter.

Leb wohl, Sankt Lorenz
Ein erster längerer Stopp lohnt sich in Gaspé („The End of the Land“), das gut geschützt in einer Bucht liegt. Hier muss man Abschied von Sankt Lorenz nehmen, hier ergießt er sich in den Atlantik. Den Abschiedsschmerz lindert der Anblick des Felsens von Percé, eine Laune der Natur und der Gezeiten. Der Wind bläst so stark, dass man die Kamera kaum ruhighalten kann.

Gaspé ist berühmt für seinen Hummer. Das einzige offene Restaurant im Ort trägt den eingängigen Namen „Brise Bise“ und serviert auch Lobster Sandwich, das gönnt man sich. Unter viel Salat und Pommes frittes verstecken sich zarte weiße Würfel mit hummerroter Oberfläche. Schmeckt gut, denkt man – und findet am nächsten Tag eben jene Würfel im Supermarkt als billigen „Fake Lobster“, hergestellt aus gepresstem Fisch und Lebensmittelfarbe. Merke: Echter Hummer ist fasrig und lässt sich nicht in Würfel schneiden.

Den Vergleich erlebt man 800 Kilometer südlich auf Prince Edward Island. Die Spezialität der Hauptstadt Charlottetown heißt Lobster Roll, Hummerfleisch mit Mayonnaise in einem weißen Weckerl, das schmeckt wirklich gut und ist ein wunderbare Einstieg für alle, die sich erst von den Einheimischen abschauen wollen, wie man einen ganzen Hummer knackt. Das kann hier jedes Kind.  

Inzwischen ist man ein Nationalpark-, Wanderweg- und Strandlauf-Profi. Prince Edward Island, von Wissenden nur „P-E-I“ genannt, hat von allem im Überfluss. Von Charlottetown aus ist das Wichtigste in 100 Kilometern Radius zu erreichen. Jeder Ort ist es wert. Ob man nun die acht Kilometer lange Cavendish Beach entlangläuft – Vorsaison, also menschenleer –, den Austernfischern in der Malpeque Bay zusieht oder dem zauberhaften Winter River Trail folgt: Die Natur ist der Star. Wobei gerade jener Winter River Trail wieder frappant an das Waldviertel erinnert.

P-E-I ist über Kanadas längste Brücke mit dem Festland verbunden, die fast 13 Kilometer lange Confederation Bridge. Im Winter ist sie oft wegen starker Atlantikstürme gesperrt ist, die jeden Lkw umblasen könnten. 2019 richtete der Tropensturm Dorian gewaltige Schäden in den Wäldern an. Nicht nur in Küstennähe knickte er die flachwurzelnden Weißfichten wie Streichhölzer. Sie werden liegengelassen, was unaufgeräumt aussieht, aber bald von Moos überwachsen ist. Das gibt dem Waldboden etwas Uneben-Gupfeliges, ist aber auch ein großartiger Nährboden. Kanadier wissen, wie man selbst ein Unglück positiv verkauft: Die Weißfichten waren ohnehin am Ende ihres Lebenszyklus, hört man, sie werden nun gegen klimawandelresistentere, tiefwurzelnde und obendrein einheimische Amerikanische Buchen, Zuckerahorn, Gelbbirken, Rotfichten und Seidenkiefern ersetzt. Die brauchen halt nur Zeit zum Wachsen.

P-E-I hat noch eine Besonderheit: erdbeerrote Erde. Sie kommt vom hohen Gehalt an Eisen, das an der Luft rostet, und ist besonders fruchtbar. Die Insel ist großteils Farmland mit weichen Hügeln, ein Gegensatz zur schroffen Atlantikküste, die man bisher entlanggefahren ist. Wie schön muss es hier sein, wenn alles grün ist, denkt man. Und gerade, als zaghaft die ersten Märzenbecher aufgehen – da blüht in Österreich schon der Flieder – packt man zusammen und fährt weiter.

Die Mutter aller Trails
Nächste Station ist Cape Breton Island, knapp 300 km östlich. Die zerklüftete Insel ist offiziell berühmt für den Cabot Trail, inoffiziell für ihre Papierindustrie. Die sieht man nicht, sie versteckt sich in den dichten, überraschend jungen Wäldern.

Nicht verwechseln: Der Cabot Trail ist kein Wanderweg. Er ist ein 300 Kilometer langer, im Rundkurs geführter Highway mit atemberaubender Aussicht. „Highway“ klingt nach schnell, doch im Nordern besteht er aus wilden Berg- und Talfahrten und engen Kehren, die man wirklich langsam fahren muss. Wer einen Truck vor sich hat, tuckert in Schritttempo dahin.

Man könnte den Cabot Trail in einem Tag fahren, aber wer will das schon? Von ihm zweigen unzählige Wanderwege ab, irreführend ebenfalls Trails genannt. Für jeden Geschmack ist etwas dabei, vom lieblichen Margaree River an der Westküste bis zu den dramatischen Klippen im Norden. Ein Teil des Cabot Trails führt durch einen eintrittspflichtigen Nationalpark. Von dort gehen die beliebtesten Wege ab, der Acadian Trail und der Salmon Pools Trail entlang eines glitzernden rostfarbenen Flusses. Lachse sieht man im Mai keine.

Guter Tipp: Quartiere erstens entlang des Trails buchen statt südlich oder östlich davon und zweitens lange vor Saisonbeginn, dann hat man die beste Auswahl. Von Tiny Houses über Campingplätze bis zu luxuriösen Cabins mit Meerblick gibt es alles. Betten abseits des Trails sind billiger, doch Anfahrtszeit und -kosten machen das wieder wett. Die Distanzen sind nicht zu unterschätzen.

Und gerade, als die Birken zart-grün zu schimmern beginnen, als die Lilien am Fleur-de-Lis-Trail erste Blätter ans Licht schicken, gerade, als die Nächtigungspreise schlagartig nach oben schießen, da packt man seine Sachen und fährt weiter.

Die Ostküste und Halifax
Wer Schottland liebt, der liebt auch Nova Scotia. Die Ähnlichkeit ist nicht zu übersehen. Die gesamte Ostküste reiht sich eine Bucht nach der anderen, mal schroffer, mal sandiger, ein Paradies für Surfer und Biker. Lawrencetown und Seaforth, nur eine halbe Autostunde östlich von Halifax, sind solche Traumorte: auf der einen Seite der Straße liegt der Atlantik, auf der anderen Wald. Ebensoweit westlich von Halifax steht auf den Felsen von Peggy’s Cove der meistfotografierte Leuchtturm Kanadas, noch ein Stück weiter liegt das malerische Seefahrerdorf Lunenburg, seit 1996 Unesco Weltkulturerbe. Wer dann noch nicht genug von maritimer Romantik hat, durchquert die Halbinsel und landet im kleinen Ort Digby an der Bay of Fundy. Ersterer ist berühmt für seine Jakobsmuscheln – es darf auch wieder Hummer sein –, zweitere für ihre imposanten Gezeiten mit bis zu 15 Meter Tidenhub.

Schlusspunkt dieses Roadtrips ist die Hauptstadt Nova Scotias. Wer Halifax hört, denkt an die Titanic, die nie dort ankam, und an zigtausend Migranten aus aller Welt, die in Halifax erstmals kanadischen Boden betraten. Ihnen ist das sehenswerte Canadian Museum of Immigration an Pier 21 gewidmet. Gut gemacht: Kanada bekennt sich darin zu seinem Ruf als Einwanderungsland, erklärt aber auch, warum nicht jeder willkommen ist. Die knapp zwei Kilometer lange hölzerne Hafenpromenade mit ihren kleinen Lokalen ist das eigentliche Highlight von Halifax.

Und gerade, als Ende Mai endlich die Magnolien in den Gärten und die Lupinien entlang der Highways zu blühen beginnen, da legen auch die ersten Kreuzfahrtschiffe am Pier 21 an und ergießen tausende Zweistundentouristen über Halifax. Die Highways füllen sich mit Mietautos, mit ihnen kommen auch die lästigen Schwarzfliegen und die noch lästigeren Moskitos und die Preise verdoppeln sich mit einem Schlag. Und jetzt ist der Frühling endlich wirklich da.

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