Mach‘ jemanden klein und fühl‘ dich größer

Neulich war ich Zeugin eines bemerkenswerten Dialogs. Schauplatz war ein stadtbekanntes Fachgeschäft für Stoffe und Nähzubehör in der Wiener Mariahilferstraße.

Vor mir kam eine Dame ausländischer Herkunft an der Reihe. Sie sprach ausgezeichnetes Alltagsdeutsch, kannte aber nicht den Fachbegriff für das, was sie suchte:


Kundin zur Verkäuferin: Ich brauche diesen Stoff, den man zur Verstärkung in Anzugjacken einbügelt.

Verkäuferin (schnippisch, zieht zwei Rollen unter der Budel hervor): Wir haben nur das.

Kundin (schüttelt den Kopf): Nein, das ist nicht das Richtige. Was ich suche, ist in jeder Anzugjacke innen drinnen. Zur Verstärkung.

Verkäuferin (grantig): Woher soll ich wissen, was Sie suchen? Ich bin ja keine Herrenschneiderin!


Wow, das saß! Meine Kanada-gestreichelte Freundlichkeitsseele krümmte sich unter der Watschn, die die Verkäuferin gerade ihrer Kundin verpasst hatte. Wie konnte die auch von einer offensichtlich langgedienten Fachkraft in einem Nähgeschäft erwarten, dass die sich nicht nur bei Damen-, sondern auch bei Herrenschneiderei auskennt?

Die Kundin zog also gedemütigt von dannen. Die Verkäuferin wandte sich augenrollend mir zu. Für einen kurzen Moment – bis sie meinen Blick sah – fühlte sie sich zwei Zentimeter größer.

Ihr könnt jetzt ruhig den Kopf schütteln. Oder ihr nehmt euch selbst bei der Nase. Manchmal ist die Versuchung groß, jemanden klein zu machen, damit man sich selbst größer fühlt. Aber bitte: Ihr habt das nicht nötig.

In diesem Sinn: Frohe Weihnachten!

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