In Print ist dieser Reiseartikel schon erschienen, online dauert noch. Hier ist erst mal mein Word-Text.

Riesenbäume, Riesenadler, Riesenwellen

Kanada. Wer Vancouver Island besucht, schlägt meist sein Quartier in der Provinzhauptstadt Victoria ganz im Süden auf. Das verlängert jedoch die Fahrzeit zu den Attraktionen weiter nördlich. Die verdienen jeden Superlativ.

Anfängerfehler: Da hat man doch glatt das kleingedruckte „pm“ auf dem Ticket übersehen. Nun steht man in der Schlange für die Morgen- statt für die Abendfähre von Vancouver nach Vancouver Island und wird wohl den Zorn hunderter Autofahrer auf sich laden, wenn man die Kolonne aufhält. Doch die Dame an der Ticketkontrolle denkt gar nicht daran, sich mit der Schuldfrage zu befassen. „Ich buche Sie um“, sagt sie freundlich. Und schon rollt man über die Rampe in den Bauch der Fähre.

Halte dich nicht mit Problemen auf, sondern löse sie, umstandslos und mit einem Lächeln. Dieser Einstellung begegnet man überall in Kanada. Sie macht das Reisen sehr, sehr angenehm. Doch nun steht man am Oberdeck der Fähre und friert. Am Meer pfeift heftiger Wind. Gut sind jene Reisenden dran, die vorausschauend einen Hoodie mitbrachten und sich nun die Kapuze über den Kopf ziehen. T-Shirt-Träger haben blaue Lippen. 

Nach der Landung in Nanaimo zieht es die meisten Reisenden nach Victoria, der am Südzipfel gelegenen Hauptstadt von Vancouver Island. Das ist durchaus eine gute Idee, wenn man im Süden bleiben will. Sich aber gleich in Nanaimo, der zweitgrößten Stadt knapp 200 Kilometer nördlich von Victoria einzunisten, hat Vorteile. So kann man viel mehr Attraktionen der Insel bequem in einem Tagesausflug erreichen. Die Schönheit von Nanaimo hält sich zwar in Grenzen, aber manche haben das Glück und finden ein Quartier mit Weitblick, hoch oben auf den Felsen mit Aussicht auf Bucht und Berge. Kulinarisch ist man jedenfalls gut versorgt. Am Hafen und im Old City Quarter gleich dahinter locken entzückende Restaurants, sofern man rechtzeitig reserviert hat. Wer das verpasst hat: Die Carbone Pizzeria in der Terminal Avenue North zaubert überraschend exquisite Pizzas auch zum Mitnehmen.

Hat man sich in Nanaimo zurechtgefunden, geht es um die logistische Kunst, in möglichst wenigen Reisetagen möglichst viele und abwechslungsreiche Aktivitäten unterzubringen. Beginnen wir mit etwas leicht Zugänglichem, dem Cathedral Grove auf der Straße nach Port Alberni. Dieser uralte Wald mit seinen gigantischen Baumriesen ist von Nanaimo nur 50 Autominuten, von Victoria aber zweieinviertel Stunden entfernt. Genereller Hinweis: Die Straßen auf Vancouver Island sind zwar gut ausgebaut, dennoch kommt man sowohl an den Küsten als auch im hügeligen Inselinneren nur langsam voran. 90 Minuten für 100 Kilometer sind ein guter Richtwert.

Im Cathedral Grove bestaunt man 800 Jahre alte Douglas-Tannen, von denen manche noch die Spuren eines Brandes vor 350 Jahren tragen. Auch mächtigen Rot-Zedern stehen da, die großen Verwandten unserer heimischen Thujen. Fällt ein solcher Baumriese um – im Lauf von Jahrhunderten passiert das schon mal –, bleibt er mitsamt seinem gewaltigen, aus der Erde gerissenen Wurzelballen einfach liegen. In den Spalten seiner Rinde verfangen sich neue Samen, deshalb wächst die neue Baumgeneration oft „in Linie“, alle hintereinander auf dem modernden Stamm. Junge Hemlock-Tannen, die gut mit wenig Licht auskommen, nehmen mit ihrem weichen hellen Silhouetten dem Wald die Schwere. In den Baumhöhlen und Wurzelspalten haust allerlei Getier, es empfiehlt sich, auf den Holzstegen zu bleiben, die durch das unebene Gelände leiten. Da oben fühlt man sich sicher.

Weißer Rabe und schwarzer Bär
Auf dem Rückweg nach Nanaimo geht sich noch das North Island Wildlfe Recovery Center nahe Parksville aus. Doch Achtung: Auf den Werbeplakaten scheint es, als würde hier gleichermaßen Bären und Raubvögel leben. Tatsächlich versteckt sich nur ein einsamer Schwarzbär im Gebüsch seines Geheges. Vögel gibt es dagegen viele, Eulen, Käuze und zahlreiche Raben, auch einen großen weißen, der wegen einer Melaninstörung nicht in die Sonne darf. Unbedingt sollte man dem gewaltigen Weißkopfadler „Sandor“ seine Aufwartung machen, der majestätisch in seiner Voliere residiert. So nah kommt man einem Adler nie wieder.

Wer nach diesem Tagesausflugs-Testballon Lust auf eine längere Strecke hat, sollte nicht den Teil des Pacific Rim Nationalparks zwischen Uclulet und Tofino versäumen. Selbst von Nanaimo aus zieht sich die nur 175 Kilometer lange und sehr kurvenreiche Strecke. Zweieinhalb Stunden in eine Richtung muss man schon rechnen. Von Victoria aus wären es vier Stunden. Das kanadische Nationalpark-System verlangt den Erwerb eines Eintrittstickets – als Richtwert passen zehn Euro pro Person und Auto –, andernfalls darf man mit dem Auto zwar durch den Park fahren, nicht aber stehenbleiben. Mit happigen Strafen sorgen Parkwächter dafür, dass man sich auch daran hält. Das Ticket nicht beim Automaten am Parkplatz, sondern im jeweiligen Visitor Center zu kaufen, hat einen Vorteil: Nur dort bekommt man auch eine wirklich nützliche Übersichtskarte samt Beschreibung der einzelnen Trails. Die sind nach Schwierigkeitsstufen gegliedert, vorbildlich gewartet und abwechslungsreich gestaltet. Im Pacific Rim National Park ist von der Sumpflandschaft über Regenwälder mit und ohne Hängebrücke, einem kilometerlangen Sandstrand am tosenden Pazifik und einem Leuchtturm am Felsen alles dabei. Mit Glück trifft man auch nicht sonderlich scheue Rehe.

Wer mit ein oder zwei Trails genug hat, könnte noch am selben Tag im malerischen Hafen von Tofino abendessen, der entzückenden Küstenstadt knapp 50 Kilometer vom Park entfernt. Doch dann fährt man in völliger Dunkelheit durch den zappendusteren Wald zurück, was wegen unvermutet auftauchender Wildtiere nicht frei von Risiko ist. Eine Alternative ist, das Nationalparkticket maximal auszunutzen und am nächsten Tag wiederzukommen. Zugegeben, die neuerliche Anfahrt ist anstrengend. Doch Tickets gelten immer bis 16 Uhr am Folgetag, bis dahin kann man die fehlenden Trails nachholen. Wert sind sie es.

Wert sind es auch die Wale, die zwischen März und August auf ihrem Weg von der Arktis nach Mexiko an der Westküste Vancouver Islands vorbeiziehen. In dieser Zeit werden Touren sowohl in Tofino als auch in Uclulet angeboten. Erwartungsgemäß sind sie ein teures Vergnügen.   

Stromschnellen im Schlauchboot
Nach so viel Wandern will man sich einen faulen Tag leisten. Etwa am Cowichan River, wo man sich in Schlauchbooten den Fluss hinuntertreiben lassen kann und am Ende der Strecken von einem Shuttlebus aufgepickt und zurückgebracht wird. Die erste Hälfte erinnert an einen typisch österreichischen Badesee, ist gemächlich und völlig unsportlich. Ab der Halbzeit nimmt der Fluss Fahrt auf und überrascht mit mehreren (harmlosen) Stromschnellen. Tipp: nicht mit dem Bug voran in die Stromschnelle steuern, sondern das Boot querstellen. So bleibt man trocken genug, um sich im Anschluss an einer Weinverkostung im Cowichan („warmes Land“) Valley zu erfreuen. Das Tal ist bekannt für seine Weingüter, nicht umsonst wird es auch „Napa des Nordens“ genannt.  Ob man eine geführte Tour bucht oder auf eigene Faust eines oder mehrere Güter herauspickt, bleibt der eigenen Abenteuerlust überlassen. Auswahl gibt es genug.

Noch ein zweites nasses Vergnügen ist von Nanaimo aus leichter zu erreichen als von Victoria. In Courtenay am gleichnamigen Fluss kann man umstandslos Kajaks oder Kanus mieten und die große Bucht (fast) bis ins offene Meer hinauspaddeln. Wer schon immer den Unterschied wissen wollte: Kajaks haben ein einseitiges Paddel mit festem Griff am Ende, Kanus symmetrische Paddel mit zwei Paddelflächen. Beides macht Spaß. Vor allem, wenn man wie am Courtenay River von fröhlichen Seeottern begleitet wird, die gern ihre Köpfe aus dem Wasser stecken und manchmal auch einen frisch gefangenen Fisch zeigen.   

Klug ist es, sich vor dem Paddeln über die Gezeiten zu informieren. Bei Ebbe muss man auf Unterwasserfelsen achten. Bei Flut fällt das zwar weg, doch landauswärts zu paddeln ist gegen den Druck des Meeres anstrengender. Ziel ist entweder ein Kaffee in der Marina von Comox oder der Schiffsfriedhof auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht. Aus leidvoller Erfahrung: Wer dort sein Boot verlässt, um sich die Wracks von den steinernen Wellenbrechern aus anzuschauen, sollte keinesfalls sein Paddel auf den Felsen ablegen. Die Flut steigt schneller als erwartet und trägt es bald weg. Andererseits: Die Rückholaktion vergisst man nie.  

Verfolgt man den Courtenay River landeinwärts, landet man im Lake Comox, der vom gleichnamigen Gletscher gespeist wird. Etwas nördlich davon liegt das Mount Washington Alpine Resort, das ganzjährig mit einer der dicksten Schneedecken des Landes aufwartet und mit zahlreichen sportlichen Outdoor-Aktivitäten lockt. Achtung, dort oben ist es frisch!

Ein bisserl Kultur
Natürlich darf auch die Inselhauptstadt Victoria nicht zu kurz kommen. Sie eignet sich perfekt für einen trüben Tag. Alles, was man gesehen haben muss, liegt schön übersichtlich angeordnet in einem Halbbogen entlang des Stadthafens: Ganz im Süden genügt den meisten Touristen ein Blick auf das klassizistische und so gar nicht kanadatypische Parlamentsgebäude, gefolgt von einem ebenso flüchtigen Blick auf das Fairmont Empress Hotel – wer die Fotos von Québec City und dem am Hügel thronender Fairmont Le Chateau Frontenac Hotels kennt, erkennt ohnehin jedes Fairmont Hotel auf den ersten Blick. Und schon geht die fröhliche Souvenierjagd gleich nebenan in der Government Street los. Unterbrochen wird sie von einem Cocktail am historischen Bastion Square, um ihren krönenden Abschluss im pittoresken Einkaufsparadies am Market Square am Nordende des Hafens zu finden.

Doch Halt, ein Highlight fehlt: das Royal British Columbia Museum, das als eines der besten Kanadas gilt. Die naturhistorische Abteilung erklärt deprimierend eindringlich den Klimawandel und seine Folgen. Die völkerkundliche Abteilung ist derzeit (September 2022) wegen Renovierung geschlossen. Man muss sich wohl mit einem IMAX-Film oder mit den Totempfählen im Thunderbird Park rund um das Museum zufriedengeben. Oder, sobald man zurück am Festland ist, das noch bessere Museum of Anthropology in Vancouver besuchen. Doch wer sich einmal auf Vancouver Island eingelebt hat, hat es mit der Rückkehr gar nicht eilig.

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