Wirtschaftsfaktor Wald

Waldliebe

Wald
23.03.2022

 
Hören wir „Wald“, denken wir an Wandern und Erholen. Doch der österreichische Wald kann mehr: Er ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor und Schutzschild gegen den Klimawandel.
Wald

Die Nacht war kurz.

Um vier Uhr früh half Andrea Pirker einem Kalb ins Leben. So aufgekratzt war die steirische Land- und Forstwirtin danach, dass sie gleich weiter in ihren Wald in Kulm am Zirbitz fuhr. Dort wies sie Holzfahrer an, welches Holz sie aufnehmen und abtransportieren sollten. „Damit sie nicht das Falsche nehmen.“ Danach hielt sie einen Vortrag für ihr Netzwerk „Die Forstfrauen“, einen grenzüberschreitenden Zusammenschluss von Frauen in der Forstwirtschaft. Der Wald war nie Männersache, auch wenn das viele glauben. In Österreich ist ein Drittel in Frauenhand oder wird von Frauen mitbewirtschaftet. Da gibt es einiges abzustimmen. Klar, sagt Pirker, trotz ihres souveränen Umgangs mit der Motorsäge sei ihr beim Schlägern jeder Mann an Körperkraft überlegen. Aber Forstwirtschaft bestehe eben nicht nur aus körperlicher Arbeit. Sondern aus Planen, Organisieren, Entscheiden: „Verjünge ich mit Fichte oder mit Tanne? Ernte ich mit dem Harvester oder schicke ich einen Mann mit der Seilwinde?“ Und aus Verhandlungen, vielen Verhandlungen. Die liebt Pirker besonders. Das Handwerk und die harte Arbeit brachte ihr der Vater bei. Die Liebe zum Wald, die kam vom Großvater. Sie gab sie weiter an ihre vier Kinder, die ihr schon signalisierten, dass sie den Betrieb weiterführen würden. Forstwirte, sagt Pirker, dachten immer schon in Generationen.

Georg Schoeppl_Bundesforste
Georg Schoeppl, Bundesforste

Der Wald als Wirtschaftsfaktor

Wenn wir über Wald sprechen, denken wir gemeinhin an Freizeit und Erholung. Doch das greift viel zu kurz. Die heimische Holzwirtschaft trägt beachtliche 20 Milliarden Euro Wertschöpfung und 300.000 Arbeitsplätze zur heimischen Wirtschaftsleistung bei. Für Georg Schöppl, Finanz- und Immobilienvorstand der Österreichischen Bundesforste (ÖBf), ist Wald der drittwichtigste Rohstoff des Landes. „Der wichtigste Rohstoff Österreichs sind unsere Gehirne“, sagt Schöppl, „die brauchen wir zum Denken. Der zweitwichtigste ist die Landschaft, die brauchen wir für den Tourismus. Der drittwichtigste ist der Wald. Den brauchen wir für die Holzwirtschaft.“

Bei der Verarbeitung von Holz spielt Österreich gar in der Weltliga mit. Mit fünf bis sechs Milliarden Euro Umsatz liegen wir regelmäßig unter den globalen Top-10-Exporteuren von Holzprodukten. Zuletzt belegte Österreich Platz acht nach Kanada, den USA, Schweden, Finnland, Deutschland, Russland und Brasilien. Vor allem in den USA und in Asien steigt die Nachfrage nach heimischen Holzprodukten – Papier, Zellstoff, Platten – stetig. Wer die Wirtschaftskraft des heimischen Waldes verstehen will, muss über das Holz hinausdenken. Allein bei den Bundesforsten entsteht die Konzernbetriebsleistung von 227,1 Millionen Euro (2020, die Zahlen für 2021 sind noch nicht veröffentlicht) durch Holz­ernte und -verkauf, aber auch durch Jagd, Fischerei, Dienstleistungen wie Beratung und Planung, Naturraummanagement etwa von Schutzgebieten, Straßenbau und Instandhaltung, erneuerbare Energien aus Kleinwasserkraft, Biomasse und Windkraft und nicht zuletzt aus der Kreativwirtschaft mit Mieterlösen für Film- und Fotolocations. Aber: Der Löwenanteil der 17,9 Millionen Euro Gewinn kommt aus dem Immobiliengeschäft, dem Vermieten und Verpachten von Grundstücken, Seen und Gebäuden.

Bund, Kirche, Familien

Wald bedeckt etwa die halbe Fläche Österreichs, rund 42.000 km2. Tendenz steigend: Jedes Jahr wächst der Wald um 3.400 Hektar. „In den vergangenen 50 Jahren machte das die Fläche Vorarlbergs aus“, sagt Schöppl. Vor 300 Jahren war das noch anders, da wurde auch hierzulande gerodet wie heute am Amazonas. „1713 war der sächsische Berghauptmann Hans Carl von Carlowitz der Erste, der sagte, so geht das nicht weiter. Es muss wenigstens so viel nachwachsen, wie wir entnehmen.“ Carlowitz gilt als Begründer des forstlichen Nachhaltigkeitsbegriffs. Was er quantitativ meinte, gilt heute auch qualitativ: Was nachgepflanzt wird, soll auch dem Klimawandel standhalten. Im heimischen Gesamtmarkt sind die Bundesforste ein vergleichsweise kleiner Player. Im Auftrag der Republik verwalten und verwerten sie etwa 15 Prozent der heimischen Waldfläche. „Nur in Portugal ist noch weniger in staatlicher Hand.“ Der Rest ist in Kirchenbesitz, vor allem aber in Privatbesitz. 145.000 Familien, so liest man auf der Homepage der „Land&Forst Betriebe Österreich“, teilen sich den heimischen Wald auf. Viele sind adeliger Herkunft.
So wie Felix Montecuccoli, der mit seiner Frau Helga das niederösterreichische Gut Mitterau bewirtschaftet. Seit dem Jahr 1628 gehört Mitterau schon seinen Vorfahren. Aufgewachsen zwischen Ahnenporträts und von klein auf mit der Historie vertraut, begriff Montecuccoli schon als Teenager, in welchen Dimensionen er denken musste. „Zu Allerheiligen gingen wir in unsere Familiengruft“, erinnert er sich, „da stand ich inmitten der Sarkophage meiner Vorfahren und verstand, ich bin der Nächste in der Reihe. Und ich will nicht der Letzte in Mitterau gewesen sein.“

Generationenvertrag

Auch er stellte längst die Weichen für die nächste Generation: „Wenn man wartet, bis man sich zurückziehen will, ist es zu spät. Man muss den Wechsel vorbereiten, wenn die Kinder ihre Lebensplanung machen.“ Die Aufgabe jeder Generation ist es, den Betrieb zukunftsfit zu machen – was immer das in der aktuellen Ära bedeutet. Montecuccoli erzählt von seinem Großvater, der Mitterau nach dem Zweiten Weltkrieg nach russischer Besatzung wieder aufbaute: „Die Felder waren nicht bestellt, die Stallungen leer, die Häuser verwüstet, die Maschinen weg – und die Kasse war leer.“ Als sein Vater übernahm, errichtete er Forststraßen und führte moderne Technologien ein. Nun sei es seine Aufgabe, so Montecuccoli, den Wald „nachhaltig“ zu machen. Im Sinne von ökonomischer Nachhaltigkeit („Betriebe müssen Gewinn machen, Mitarbeiter einen gerechten Lohn bekommen“), ökologischer Nachhaltigkeit („Das Potenzial erhalten und verbessern“) und sozialer Nachhaltigkeit: „Wir als Forstwirte und Bauern können nur bestehen, wenn uns die Gesellschaft akzeptiert.“
Apropos Gesellschaft: Als Präsident der Land&Forst Betriebe Österreichs vertritt der 58-Jährige „die halbe Waldfläche und ein Fünftel der Getreideproduktion Österreichs“. Aus altruistischen Motiven: „Ich mag das altmodische Wort Gemeinwohl, es ist ein schöner Begriff in einer Zeit des zunehmenden Egoismus. Viele meiner Vorfahren hatten öffentliche Ämter inne. Auch ich sehe es als Verpflichtung, meine Kompetenz der Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen.“

Gemeinsamer Feind

Genetzwerkt und zusammengeschlossen wird also überall, bei den Waldfrauen genauso wie auf den Adelsgütern. Das ist auch nötig, denn alle kämpfen gegen denselben Feind: den Klimawandel. Die Welt wird heißer, die Böden trockener, die Bäume schwächer. Ideale Voraussetzungen für den Borkenkäfer, den größten Schädling der heimischen Wälder. Seit 2017 vermehrt er sich dramatisch. Aus den Eiern eines einzigen Weibchens schlüpfen nach fünf Wochen zehn Weibchen, die wiederum innerhalb von fünf Wochen hundert neue Weibchen produzieren. Eine Saison reicht derzeit für vier Brutzyklen – macht 10.000 Weibchen. Die Länge der Zyklen ist temperaturabhängig: Bei 19 Grad Durchschnittstemperatur dauerten sie im Schnitt sieben Wochen, bei 24 Grad nur mehr vier bis fünf Wochen. Einen fünften Brutzyklus mit 100.000 Weibchen will sich niemand vorstellen. Der Klimawandel schwächt auch den Baum selbst. Bei ausreichend Feuchtigkeit könnte er sich wehren und Käfer und Gelege mit seinem Harz ersticken. Aus der Luft erkennt man befallene Bäume deutlich: Ihr Laub ist braun. Am Boden sind die Förster mit Drohnen und geschulten Hunden unterwegs, die Käfernester erschnüffeln. Kranke Bäume werden sofort gefällt und abtransportiert. So behalten sie ihren Verkaufswert – vorausgesetzt, man entdeckt die Nester vor dem Schlüpfen. Die Bundesforste beklagen 59 Prozent Schadholz an der gesamten Erntemenge, die Hälfte davon durch Käferbefall. Die andere Hälfte kommt von Stürmen und Schneebruch. Die Gegenstrategien sind vielfältig und variieren nach Standort. Schlägerte man früher ganze Flächen kahl, schneidet man heute gezielt kranke oder beschädigte Bäume heraus und verjüngt den Wald kontinuierlich. Oder man setzt Tiefwurzler wie Eiche und Buche, die sich ihr Wasser von weiter unten holen können und überdies sturmfester sind. Genau das sind die Schwachpunkte der beliebten Flachwurzler Fichte, Tanne und Lärche. Auch Gentechnologie kommt zum Einsatz: Das Austrian­ Institute of Technology (AIT) arbeitet an trockenheitsresistenten Fichten. „Wir sind guter Dinge“, beruhigt Bundesforste-Vorstand Schöppl, „sofern das Pariser Klimaziel von zwei Grad erreicht wird. Verfehlen wir es, kippt der Gesamthaushalt der Natur. Dann sind die Karten neu gemischt.“

Nutzen statt verbrennen

Holz spielt eine weitere wichtige Rolle in der Klimastrategie: Es bindet CO2 – so lange es genutzt und nicht verbrannt wird. Daher wird in ganz Österreich an neuen Anwendungen geforscht. Das Projekt WoodC.A.R. des steirischen Holzclusters etwa arbeitet daran, Holz großflächig in Fahrzeugen zu verbauen als Werkstoff für Strukturbauteile. Einem Team der TU Graz wiederum gelang es etwa, Redox-Flow-Batterien umweltfreundlicher zu machen, indem sie deren Kernelement – flüssige Elektrolyte – durch herkömmliches Vanillin ersetzten. Es wird aus Lignin gewonnen, jenem Holzbestandteil, der Baum- und Strauchrinde verholzen lässt und unempfindlich gegen Licht und Sonne macht. Das Start-up Lignovations wandelt diese Eigenschaft in kommerzielle Anwendungen um. So verdoppeln kleinste Beigaben von Lignin den Lichtschutzfaktor von Sonnencremen und machen sie umwelt- bzw. wasserverträglich. Wird Lignin Lacken beigemengt, macht es damit behandelte Holzoberflächen lichtunempfindlich, ohne die Umwelt zu belasten. Ein anderer Bestandteil von Baumrinde ist Tannin. Der Gerbstoff kann zu festem, braunem Schaum aufgeschäumt werden – ein kostengünstiges und umweltfreundliches Substitut für Styropor. Und schon Steinzeitmensch Ötzi klebte seine Pfeilspitzen mit Birkenpech an den Schaft. Vielleicht kommt ja demnächst CO2-neutraler Klebstoff aus Holz – Hauptsache, er wird nicht verbrannt.

Wald auf einen Blick

Waldboden speichert gesamt rund 985 Mio. Tonnen Kohlenstoff oder rund 3,6 Milliarden Tonnen CO2-Äquivalente.
In Österreichs Wäldern gibt es 65 Baumarten und insgesamt 3,4 Milliarden Bäume.
Die Wertschöpfungskette des Rohstoffes Holz bietet in über 172.000 Betrieben rund 280.000 Menschen in Österreich Einkommen.