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Die Japaner und das verlorene Lächeln

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Selten, ganz selten entringt man als Fremder Japanern ein Lächeln. Es zählt umso mehr.

Früher nannte man Japan das Land des Lächelns. Angeblich zwangen sich die Menschen selbst unter größtem Kummer zu lächeln, um andere nicht in die Verlegenheit zu bringen, Mitgefühl zu zeigen und so ihr Gesicht zu verlieren. Heute lächelt kaum jemand mehr.  

Nikko, ein kleines Hotel. Man betritt das Foyer, geht lächelnd auf die beiden Rezeptionistinnen zu, die stehend hinter ihrer Theke warten. Man deutet eine Verneigung an, lächelt noch einmal, grüßt ein japanisches Konnichi-wa und nennt auf Englisch die Zimmernummer. Ausdruckslos überreicht eine der beiden den Schlüssel.

Nachher schimpft einen die japankundige Tochter. Voll unhöflich sei man gewesen. Unhöflich? Unhöflich waren die Rezeptionistinnen, kontert man. Kein Lächeln, keine Wärme, wo man doch so freundlich war. Ein Trampeltier war man, hakt die Tochter nach. Viel zu direkt auf die beiden zugegangen. Ihnen in die Augen geschaut! Die Verneigung – ein Spott. Verbeugen hätte man sich müssen. Vor allem aber: Man habe sich nicht entschuldigt. Entschuldigt?, fragt man verblüfft – wofür denn? Dass man die beiden gestört habe, insistiert die Tochter. Gestört? – Sie hatten nichts zu tun. Sie standen da und warteten. So geht das eine Weile hin und her. Die Tochter beharrt darauf, dass man sich kein Lächeln verdient habe.

Natürlich hatte die Tochter recht. Aus japanischer Sicht trafen alle ihre Argumente zu. Wobei – die Rezeptionistinnen hätten so gnädig sein können wie man selbst war: Durch die Fensterscheibe hatte man gesehen, dass sie hinter der Theke ihre unbequemen Pumps ausgezogen hatten. Sie standen barfuß da! Nachsicht gegen Nachsicht? Nein. Fremde, noch dazu unhöfliche, bekommen nicht einmal die eingelernt hochgezogenen Mundwinkel. Kein Lächeln, kein Willkommen in den Augen. Nicht einmal das europäische Friedenslächeln, die „freundlichen Nasenlöcher“, mit denen wir friedliche Absichten signalisieren.

Jedoch darf das verlorene Lächeln niemals mit Unhöflichkeit verwechselt werden. Ganz im Gegenteil, Höflichkeit und Hilfsbereitschaft sind grenzenlos. Der Fremde soll gut über Japan denken.

Tokio, Ueno Station, ein Selbstbedienungs-Café mit richtig gutem Cappuccino. Im Speiseraum sind keine zwei Sitze nebeneinander frei. Ein Student mit Laptop sitzt an einem der besten Plätze, auf dem Sessel neben ihm liegt seine Jacke. Er erkennt die Situation, springt auf, offeriert uns die beiden Plätze und übersiedelt selbst in eine dunkle Ecke. Unseren Dank bekommt er gar nicht mehr mit, so schnell versinkt er wieder in seinen Laptop.

Andrea Lehky


Japaner liebt man - oder man kann nichts mit ihnen anfangen. Es lieben sie die, die sich in der japanischen Ernsthaftigkeit, in ihrer Pflichttreue wiederfinden. Und in ihrer Traurigkeit. Die ist ein eigenes Kapitel. Liest man einen beliebigen Haruki Murakami, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass alle irgendwie depri sind. Die Schwermut ist allgegenwärtig. In Coronazeiten gibt sich sogar die Regierung beunruhigt über die steigende Zahl an Suiziden. Knapp 21.000 Japaner nahmen sich im vergangenen Jahr das Leben, auf die Bevölkerung hochgerechnet annähernd doppelt so viele als in Österreich. Ein Drittel davon sind Frauen. Deren Anteil stieg im coronalastigen Vorjahr um 14,5 Prozent, bei den Männern sank er um ein Prozent.

Das Frauenleid mag mit dem pandemiebedingten Rückschlag in Sachen Gleichstellung zu tun haben. Dabei ist allein der Begriff Gleichstellung in Japan illusorisch. Im Februar gewährte die Regierungspartei ausgewählten Frauen erstmals Zutritt zu wichtigen Sitzungen. Bedingung: Sie dürfen den Mund nicht aufmachen. Arbeitgeber verwehren weiblichen Angestellten mit Kundenverkehr das Recht, Brillen zu tragen, selbst wenn sie dann schlecht sehen. Es reduziere ihren Liebreiz, lautet das Argument. Hohe Schuhe sind Pflicht, Blasen hin oder her, die Schönheit im männlichen Auge wiegt mehr. Kein Wunder, dass die Frauen niedergeschlagen sind.

Traurigkeit umweht auch die Manga- und Anime-Leitkultur. Handelt es sich nicht um die blutrünstige Splatter-Sorte – man erinnere sich an die Manga-Einblendungen in „Kill Bill“ – umweht die Protagonisten stets ein Hauch von Tragik. Selbst die bezaubernden Fantasy-Animes des auch hierzulande bekannten Makoto Shinkai schrammen knapp an der Tragödie entlang. Nur selten huscht den Protagonisten in „Your Name“ oder „Weathering with you“ ein Lächeln über die Lippen. Immerhin, es huscht.

Tokio, Akihabara, das Herz der Cosplay Szene. Als Zofen verkleidete sehr junge Mädchen versuchen, nur unwesentlich ältere junge Anzugträger in „Maiden Cafés“ zu locken. Nein, es geht hier nicht um Minderjährigenprostitution (jedenfalls meistens nicht). In den Cafés, so wird versprochen, dürfe man „noch richtig Kind sein“. Ein „Riesenspaß“! Die kurz bestrumpften Zofen sprechen auch uns an, der Tochter zuliebe lässt man sich abschleppen. Man zahlt eine geschmalzene Eintrittsgebühr und noch mehr für niedlichen Kuchen in Bärchenform. Währenddessen versucht eine Lolita, an unserem Tisch eine „Zauberkerze“ zu entzünden. „Do you believe in Magic?“, fragt sie. Nur die Tochter nickt. Wahrscheinlich brennt die Kerze deswegen nicht.

Ein junger Anzugträger wird hereingezerrt, keine 20 Jahre alt. Dem kollektiven Gequietsche ist zu entnehmen, dass er Geburtstag hat. Für weitere 5000 Yen (rund 40 Euro) bekommt er ein Polaroid, auf dem alle Mädchen mit ihm posieren. Nicht einmal er lacht wirklich.

Andrea Lehky


Cosplay ist ein japanisches Unikum. Man verkleidet sich, um jemand anderer zu sein, ein Monster, ein Held, ein kleines Mädchen. Wie bei uns im Fasching, aber jahrein, jahraus. Eine zweite Identität, die alles darf, was einem selbst verwehrt ist. Zusätzlich gewährt die Gruppe Schutz: Cosplayer sind nie allein. Mit dem Eintritt ins Berufsleben endet das Spiel.

Kinder dagegen dürfen lachen, richtig breit und laut. In Animes wird das dieses Lachen als Halbmond dargestellt, der in das Gesicht geschnitten wirkt. Wer erinnert sich noch an die Trickfilmversion von „Heidi“? Die kam aus Japan. Und Kinder lachen auch in Japan über jeden Unfug.

Kawaguchiko am Fuß des Kilimandscharo. Ein Spielplatz voller junger Mütter und kleiner Kinder. Eine hält ihre entzückende und ganz in Rosa gekleidete kleine Kirschblüte hoch. Die drückt ihre Mami an sich und kichert. Die Mutter strahlt über das ganze Gesicht.

Dem Stereotyp nach beenden Frauen mit der Geburt des ersten Kindes ihre ohnehin hindernisreiche Karriere. Dann bleiben sie daheim und widmen sich Haushalt und Kind. Der Mann bringt das Geld. Er darf nicht heimgehen, bevor sein Chef geht bzw. unterliegt dem Gruppendruck und muss nach der Arbeit mit den Kollegen auf ein oder mehrere Biere gehen. Unter Alkoholeinfluss dürfen Männer lachen, je lauter, desto besser. Jetzt dürfen sie sich aus der Seele brüllen, was sie sonst herunterschlucken.

Andrea Lehky

Deswegen konterkarieren von Firmen veranstaltete Hanamifeste, die frühlinglichen Biergelage im Park, die unschuldige Lieblichkeit der zartrosa blühenden Kirschbaumalleen, unter denen sie stattfinden. Da stehen dann mehrere Dutzend schwarzer Managerschuhe säuberlich vor der blauen Plane aufgereiht, auf der die Männer sitzen. Daneben halb so viele schwarze Aktenkoffer, gesichert mit einem durch alle Griffe gezogenen und zusammengebundenen Seil. Es ist nicht bekannt, ob jeder mit Ende des Gelages seine Schuhe und seinen Koffer zurückbekommt.

Ob Endlosarbeit, Hanami oder Kollegenumtrunk, jedenfalls verpasst dem Klischee nach Mann den letzten Zug nach Hause. Er verbringt die Nacht auf seinem Schreibtisch schlafend, in der Wabe eines Kapselhotels, oder erschöpft eingeschlafen im vorher kollektiv genutzten Karaokeraum. In dem kann man auch über Nacht bleiben. Alternativ schlägt er sich die Nacht in einer der zahllosen Automatenhöllen rund um die Bahnhöfe um die Ohren. Der Lärm dort betäubt jeden Gedanken. Seiner Familie wird er zunehmend fremd. Dabei wäre sie die perfekte Rechtfertigung, Gefühle herauszulassen, zu lachen, toben, tollen. Dem Hörensagen nach üben das manche junge Väter bereits.

Sie sollten sich beeilen. Mit zwölf Jahren nimmt das System ihre Kinder so in Beschlag, dass auch sie nur mehr zum Schlafen nach Hause kommen. Schule, Sport, Training – das Zeitfenster schließt sich. Auch für die Kinder: Dann wachsen sie in den Ernst des Lebens hinein. Dann ist Schluss mit lustig.

Nara, der Park mit den zutraulichen Rehen. Eine Gruppe Schulmädchen verfolgt uns. Irgendwann fassen sich die Teenies in Uniform ein Herz und sprechen uns an. Für ein Schulprojekt müssten sie Ausländer interviewen und hätten da ein paar Fragen. Sie kichern und gackern, wir lachen auch, weil sie so entzückend sind. Am Ende lachen wir alle. Zusammen.

Manchmal scheint es, als wären die glücklichen Jahre auf Kindheit und Jugend zusammengepresst. Wobei man nie, niemals den Druck vergessen darf, der auf den makroökonomisch viel zu wenigen Kindern lastet. Den Leistungsdruck, aber auch den Schönheitsdruck. Junge Japanerinnen müssen schön sein. Sie sind es auch überwiegend, herzförmige Gesichter, Mandelaugen, Kirschmünder. Diese Schönheit, so zufällig sie scheint, ist das Ergebnis harter Arbeit. Keine andere Nation gibt so viel für Schönheit aus. Und nirgendwo ist die Kosmetikkonkurrenz so hart.

Auf den allgegenwärtigen Plakaten wunderschöner junger Mädchen fällt etwas auf: ihr entrücktes Lächeln. Es ist keines, das sich an die Außenwelt richtet. Es ist ein „ich bin so schön und ich weiß es“-Lächeln, ein minimales Hochziehen der Mundwinkel, gerade bis sie parallel zur Kinnlinie stehen. Sie müssen es stundenlang vor dem Spiegel geübt haben.

Alternativ ist ein erstaunter Gesichtsausdruck auf Plakaten beliebt, begleitet von aufgerissenen Augen, an die Wangen gelegte Handflächen und zu einem „Ooooh“ geformten Lippen. Ooooh, wie gut tut diese Gesichtschreme meinem Teint!

Auch das Selfie-Lachen darf hier nicht fehlen. Es wird auf Knopfdruck eingeschaltet, das können schon die kleinen Kinder. Nach dem Klicken des Auslösers (der in Japan besonders laut klickt, damit niemand ungefragt fotografiert werden kann), verschwindet es ebenso schnell. Licht an, Licht aus. Gerne wird das Selfie-Lachen mit der Victory-Geste kombiniert. Die besagt „Ich habe Spaß“.

Dann gibt es noch das TV-Show-Grinsen: Japanische TV-Shows sind für unsereins schwer zu fassen. Grell gekleidete, heillos überdrehte, Grimassen schneidende schrille Moderatoren, die sich den Bauch halten vor Lachen – über ihre eigenen Witze. Nichts ist echt. Doch vielleicht ist gerade diese Überzeichnung nötig, um den Zusehern daheim die Legitimation zu geben, endlich die Maske fallen zu lassen. Und zu sein, wie sie sind.

Beppu, auf der Insel Kyushu. Eine Privatunterkunft in traditionellem Stil, betrieben von einem älteren Ehepaar. Höflich öffnet die Hausfrau die Tür, heißt uns die Hausschuhe anzuziehen. Während sie wartet, stellt sie fest, dass die Tochter japanisch spricht. Was für eine Veränderung: In ihrem Gesicht geht die Sonne auf. Sofort holt sie ihren Mann, setzt Tee auf und dirigiert uns aufs Wohnzimmersofa zu Tee und Keksen. Jeder Satz der Tochter wird mit leuchtenden Augen und anerkennenden Worten kommentiert. Man selbst, des Japanischen nicht mächtig, liest mühelos in ihrer Körpersprache: Diese beiden freuen sich ehrlich.

Vielleicht ist ja das Zuhause jener Ort, an dem man alles ablegen darf. Die Regeln, die Normen, den Druck. Daheim ist jedes Lachen echt. Es scheint, als spiele das Alter eine Rolle. Je älter, desto mehr darf man auf die Regeln pfeifen. Zwei alte Damen in der Tokioter U-Bahn freuten sich dermaßen über unsere angebotenen Sitzplätze, dass eine zwei bunte Origami-Pferde aus ihrer Tasche zog (haben Japanerinnen immer Origami-Faltfiguren dabei?) und uns in die Hände drückte. Wir strahlten, sie strahlten. Was die anderen Passagiere dachten war ihnen egal.

Spät am Abend, im Zug nach Narita, einem der beiden internationalen Flughäfen von Tokio. Der Heimflug naht. Plötzlich der Verdacht, im falschen Zug zu sitzen. Was tun? Die Umstehenden fragen, höflich, mit Entschuldigung und angemessen panischem Gesichtsausdruck.

Sie diskutieren eine Weile, ohne uns zu beachten. Dann wendet sich uns eine Dame zu, Typ Bürofrau in schwarzem Kostüm mit Aktentasche. In perfektem Englisch erklärt sie, sie werde uns zum richtigen Zug bringen. Sie steigt mit uns aus, fährt den langen Weg zurück und übergibt uns an der richtigen Station einem Schaffner, mit dem strengen Auftrag, uns sicher zum Flughafen zu geleiten. Die Aktion hat sie locker eine Stunde ihres Feierabends gekostet. Man dankt ihr, überschwänglich und über die Maßen erleichtert. Sie nickt, dreht sich um und geht. Kein Lächeln – was für ein passender Abschied. Der Schaffner verbeugt sich fast zum rechten Winkel.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18. März 2020)

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